Pendleralltag 05

Heute: Die Baustelle

Die Arterien und Venen unserer mobilen Gesellschaft sind die Straßen.

Einst führten sie uns als Wildwechsel durch die unbekannte Natur, wurden erst ausgetreten und dann ausgebaut. Die Römer waren in Europa die Vorreiter und auch wenn ihr riesiges Reich verfiel, hinterließen sie uns, neben allerlei Kulturgut, das Wissen um die Notwendigkeit von befestigten Wegen.

Des Pendlers Alltag könnte so einfach sein, wenn nicht der Zahn der Zeit, die Witterung und schlicht und ergreifend die Benutzung der Wege auch heute noch für ihren schleichenden Verfall sorgen würden.

Bevor jedoch ein Kollaps den steten Strom aus Individuen zum erliegen bringen kann und um die künftige Durchlässigkeit zu gewährleisten, hat sich im laufe der Jahrhunderte eine gleichzeitig parasitär und symbiotisch lebende Kreatur entwickelt.

Der geneigte Leser vermutet richtig. Es ist die Baustelle.

Es wird angenommen, dass sie, gleich einem Pilz, ihr Myzel unterhalb der Erdoberfläche weit verbreitet hat. Dieses bleibt solange in einer Art Froststarre, bis von außen ein entsprechender Impuls kommt und das oberirdische Wachstum beginnt. Meist genügen Temperaturen über dem Nullpunkt.

Sofort beginnt die Baustelle über Nacht aus dem Boden zu sprießen. In Ihrer Entstehungsphase deutet sie ihr Wachstum durch eine deutliche Reduzierung der erlaubten Geschwindigkeit für die Benutzer an. (Begleitend entstehen temporäre Auswüchse, welche die Missachtung der Geschwindigkeitsbegrenzung zunächst durch Lichtblitze und zu einem späteren Zeitpunkt mit einem massiven Sog in der Geldbörse ahnden. Doch dies ist ein Thema, das einer gesonderten Betrachtung bedarf, weshalb hier nicht näher darauf eingegangen werden kann.)

Die Baustelle ernährt sich gerade jetzt über die Emotionen der Verkehrsteilnehmer und befindet sich daher in ihrer parasitären Phase, da ein Gewinn für die Allgemeinheit nicht zu erkennen ist.

Spannend wird es, wenn sie in ihrer vollen Blüte ist. Rechts und links der Fahrbahn sind Hinweisschilder, die zwar dringender Beachtung bedürfen, vom Nutzer der Straße aber trefflich ignoriert werden.

Hat die Baustelle ihre größtmögliche Ausdehnung erreicht, geht sie in eine Art der Hibernation (Winterstarre). Da dieser Zustand sowohl im Sommer, als auch im Winter auftritt, ist Winterstarre ein irreführender Begriff, in Ermangelung eines besseren verwende ich ihn trotzdem.

Von außen betrachtet passiert rein gar nichts im Ausdehnungsbereich der Baustelle, also wirklich nichts. Sämtliche Tentakel, gemeinhin als Bagger oder ähnliche Fahrzeuge bekannt, verharren regungslos auf ihren Plätzen. Auch die versklavten und gelegentlich während der Entstehungsphase zu erblickenden Vertreter der Gattung Homo Sapiens glänzen durch Abwesenheit.

Im Inneren der Baustelle, unterirdisch, spielen sich aber in einem fort Wunder über Wunder ab. Das Wesen nutzt wahrscheinlich die absorbierte emotionale Energie um das Myzel zu erweitern und neue Fruchtkörper vorzubereiten.

In der symbiotischen Phase wird die gespeicherte Energie verwendet, Löcher in der Fahrbahndecke zu schließen, Randbebauung zu erneuern und weiße Streifen als Hilfe zur korrekten Benutzung der Straße aufzutragen.

Quasi über Nacht ist die Baustelle dann verschwunden, was die Vermutung nahe legt, dass all diese Dinge in einem anderen Raum-Zeit-Kontinuum ablaufen. Wir sollten hier intensiver forschen!

Jetzt beginnt für den Nutzer die gefährlichste Phase. Die Erleichterung über das Verschwinden verleitet ihn, sich zu schnell fortzubewegen. Es tritt gehäuft das Phänomen „Unfall“ auf, was aber ebenfalls einer gesonderten Betrachtung bedarf.

Da die Baustelle nicht über ein zentrales Steuerelement verfügt, scheinen die oberirdischen Auswüchse ohne logischen Zusammenhang zu entstehen. Sodass niemand vorhersagen kann, wo der nächste Durchbruch an die Oberfläche stattfinden wird.

Bis dahin … Gute Fahrt!

sirovio